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Reden ist Silber, Schweigen ist hart – Episode I

In dieser Kolumne schreibt unser Autor über die großen und kleinen Verrücktheiten, die ihm im Alltag so begegnen. Frei nach dem Motto „Nicht ärgern, nur wundern!“. Thema dieses Mal:

Die wohnt hier schon seit ein paar Monaten nicht mehr.“

Traurig im Treppenhaus.
Traurig im Treppenhaus. © Philipp Schweikhard, 2021

“Wie, die wohnt hier nicht mehr?” – In diesem Moment muss ich ein ziemlich armseliges und gleichzeitig unfreiwillig-komisches Bild abgegeben haben, wie ich da so vor fremden Menschen im Ex-Treppenhaus einer Freundin stand. Abgezehrt, schlecht rasiert, mit ungewaschenen, viel zu langen Haaren und noch längeren Augenringen. Im dunklen Regenparka mit farblich abgestimmter schwarzer Hose und ganz und gar nicht darauf abgestimmten kunterbunten Sneakers, in die ich mich über die letzten Monate sehr verliebt habe und die ich seitdem quasi zu allem trage. Einen Jutebeutel mit dunklen, feuchtroten Flecken über dem linken und ein knallrotes Kickboard unter dem rechten Arm. “Normal” sieht wahrlich anders aus. Allerdings bin ich manchmal ganz froh darüber, nicht allzu “normal” auszusehen. Außerdem gab es gute Gründe für mein auf den ersten Blick zugegebenermaßen etwas bizarres Auftreten: Es war Prüfungsphase und viel zu kalt für die Kombination aus Ende August und Erderwärmung. Die tropfenden Brombeeren im Beutel viel zu reif und lecker, um sie nicht zu pflücken. Und nicht zuletzt hatte ich mir dank tatkräftiger Mithilfe meiner Freund*innen neben dem Studium einen florierenden Verleih medizinischer Hilfsprodukte aufgebaut. Klingt komisch, funktioniert aber so: Wenn die sich mal wieder so verletzen, dass sie nicht Fahrrad fahren können, leihe ich ihnen ein Kickboard, damit sie die Möglichkeit erhalten, sich auf dem Greifswalder Kopfsteinpflaster erneut zu verletzen. Es ist ein nachhaltiges und selbsterhaltendes Geschäftsmodell und in jeglicher Hinsicht besser als beispielsweise der Verleih von E-Scootern. Die aktuelle Auslastung meines Startups dementsprechend: 100%, alle beiden Kickboards verliehen. Und wenn ich das eine nicht bald mal wieder zurückbekomme, wird die Person, die es sich ausgeliehen hat, es demnächst auch wieder brauchen, Florian… Aber ich schweife ab.
Also: dank Expresszustellung bis in die Wohnung der Invalid*innen stehe ich durchaus auch mal im Treppenhaus. Nur blöd, wenn es das falsche ist (und die Empfängerin dann außerdem nicht an ihr Handy geht). In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, dass meine während der Lockdowns entwickelte FOMO (fear of missing out) nicht bloße Paranoia eines einsamen Geistes gewesen war, sondern tatsächlich eine gewisse Substanz hatte:
“Die wohnt hier schon seit ein paar Monaten nicht mehr.” Uff… ein Stich direkt ins Herz. Daher ein kurzer, sehr persönlicher Appell: Bitte lasst euch impfen und haltet Abstand, tut es für mich! Falls es noch einen Lockdown geben sollte, wüsste ich danach bestimmt nicht einmal mehr, wo die letzten meiner verbliebenen Freund*innen wohnen – mir sagt ja keine*r Bescheid…

Das Kickboard und ich haben es schlussendlich übrigens dann doch noch ans Ziel geschafft. Anscheinend wirkten wir auf die Nachmieterinnen vertrauenswürdig oder zumindest bemitleidenswert genug, um uns die neue Adresse der Empfängerin (deren Handy gerade kaputt war) zu verraten. Wir fühlen uns zutiefst geehrt.

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